Eine denkwürdige Begegnung am vergangenen Samstag: ich war auf dem Pariser Platz und bemerkte Protestierende vor der neuen US-Botschaft. Die gelben Plakate sind ja auch kaum zu übersehen. Auch konnte ich die großen Fotos erkennen, die die Frau links an ihrem Plakat (auf dem Bild von dem jungen Mann verdeckt) befestigt hatte. Und damit hatte ich auch die junge Frau im Rollstuhl erkannt: Christine, die mit mir zur Schule gegangen ist, wenn auch in der Parallelklasse. Ich kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, daß wir miteinander gesprochen hätten, und das war während des Schüleraustauschs in Frankreich am Ende der 10. Klasse. Ich fand sie nett, aber zu weiteren Kontakten kam es nicht, da Christine nach Ende des Schuljahres zu einem Austauschjahr in die USA reiste, sich dann zum Bleiben entschied und dann einen schrecklichen Unfall hatte. Seitdem ist sie zu 100% behindert. In der Abi-Zeitung wurde mit einem Artikel an sie erinnert, und dann gab es ab und an einige Berichte in der Lokalpresse.
Nach kurzem Zögern entschloß ich mich, Christines Mutter anzusprechen. Wir haben uns ziemlich lange unterhalten. Zum Teil kannte ich die Geschichte schon (was ich halt so aus der Presse mitbekommen hatte), aber vieles war neu für mich. So wußte ich zum Beispiel, daß es da ein gewaltiges Hin und Her mit Gerichten, Versicherungen und Gastfamilie gegeben hatte, so daß Christines Mutter ihre Tochter erst nach 11 Jahren wieder nach Deutschland holen konnte. Daß da einiges nicht mit rechten Dingen zugegangen sein muß, ist klar. Und ganz beendet ist die Auseinandersetzung um Entschädigungszahlungen, Schmerzensgeld etc. immer noch nicht, daher die Demo vor der Botschaft. Sie wollen jedes Wochenende nach Berlin kommen und sich vor das Botschaftsgebäude stellen, bis die Entschädigungszahlungen aus den Staaten eingetroffen sind.
Christines Mutter berichtet von mafiösen Strukturen in Detroit (Versicherung, Gericht, Anwälte, Gastfamilie), und tatsächlich klingt die ganze Geschichte wie ein Hollywood-Thriller. Andererseits glaube ich einfach nicht an große Verschwörungstheorien, so daß ich mir nicht darüber sicher bin, was ich von der ganzen Geschichte halten soll. Einerseits gibt es da - laut Aussage der Mutter - viele merkwürdige "Zufälle", die ich allerdings nicht im einzelnen überprüfen kann, und daß die Heimkehr von Christine nach Deutschland über ein Jahrzehnt gedauert hat, ist ein starker Beleg dafür, daß da wirklich einiges nicht ganz koscher ist. Andererseits klingt die ganze Geschichte so unglaublich, daß ich praktisch schon von Natur aus skeptisch bin. Zumindest bezweifle ich, daß alle Personen, die Christines Mutter beschuldigt, in die "Verschwörung" verwickelt zu sein, auch wirklich etwas damit zu tun haben. Aber sie hat eine hübsche, intelligente, gesunde Tochter zu einem Ausstauschjahr in die USA geschickt, hat ihr ermöglicht, dort dann ein Medizinstudium aufzunehmen, und hat nach langen 11 Jahren und vielen gerichtlichen Auseinandersetzungen eine 100-prozentig behinderte Tochter zurückbekommen. Ich kann sie durchaus verstehen.
Christines Mutter hat eine
Webseite eingerichtet, auf der sie ihre Sicht der Dinge darstellt und auch viele Dokumente öffentlich gemacht hat. Obwohl einige Formulierungen und Anschuldigungen aus meiner Sicht ganz schön starker Tobak sind, habe ich mich entschlossen, in diesem Eintrag einen Link zu der Seite einzufügen. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich sein eigenes Bild von der Sache zu machen und sich seine eigene Meinung zu bilden.
Wie gesagt, ich hatte mit Christine eigentlich gar nichts zu tun. Ich habe aber eine Erinnerung an eine nette Unterhaltung mit einem sympathischen, intelligenten Mädchen, und die Begegnung mit der Christine von heute war einfach ein Schock.